Demokratisierung des Wahlrechts - Wahlalter 16

In Hessen wurden etwa 100.000 16- und 17-Jährige von der Kommunalwahl am 14. März ausgeschlossen. Wir fordern gemeinsam mit Jugend Wählt eine Wahlrechtsabsenkung in Hessen - denn dafür gibt es sehr gute Gründe. 

In Hessen durften die Jugendlichen auf kommunaler Ebene nicht wählen. Weder das Grundgesetz noch die Hessische Gemeindeordnung legen ein Wahlmindestalter von 18 Jahren auf kommunaler Ebene fest. 11 andere Bundesländer haben bereits eine Wahlrechtsabsenkung umgesetzt. Mit dem systematischen Ausschluss verstößt die Kommunalwahl vom vergangenen Sonntag gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Dagegen wollen wir zusammen mit der Initiative Jugend Wählt klagen, um eine langfristige Veränderung zu erwirken. 


Alte Kamellen
„Wählen dürfen Demenzkranke, Kleinkriminelle und Schwerverbrecher, am Wahltag offenkundig alkoholisierte und/oder (massiv) von Drogen berauschte Personen, nur Kinder und Jugendliche dürfen dies nicht.“ (Gründinger 2014: S. 26)[1]


Die Debatte bezüglich des Wahlalters ist nicht neu, kommt sie doch in regelmäßigen Abständen immer wieder auf die politische Agenda. Dabei ist die Frage nach dem Wahlalter wohl so alt wie die Abhaltung von Wahlen selbst. Art. 20 Abs. 2 des GG besagt zwar, dass „alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird.“ Zugleich schränkt das Grundgesetz dieses Recht durch Art. 38 Abs. 2 ein, wonach „[w]ahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“

Dies gilt allerdings nicht für Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen. Das Wahlrecht ist ein grundlegendes Recht, das nur unter besonderen Gründen eingeschränkt werden darf.  


Volljährigkeit und Wahl
Für einen Ausschluss Einzelner müssen besondere Gründe vorliegen - ansonsten ist der Ausschluss illegitim. Diese Gründe sind bei 16- und 17-jährigen Jugendlichen nicht gegeben. Kritiker:innen der Wahlaltersabsenkung begründen ihre Ablehnung mit der Tatsache, dass Volljährigkeit und Wahlrecht zusammenfallen sollten.

Die zivilrechtliche formale Volljährigkeit ist allerdings keine Begründung für einen Entzug des Wahlrechts der 16- und 17-Jährigen und schließt die ausreichende Einsichts- und Urteilsfähigkeit von Kindern dieses Alters nicht aus. Das Deutsche Kinderhilfswerk verweist darauf, dass Jugendliche andere weitreichende Entscheidungen bereits vor der Vollendung der Volljährigkeit treffen können, bspw. den Beitritt zu einer Partei (ab 14 Jahren) oder den Eintritt in die Bundeswehr (ab 17 Jahren) [2].


Beteiligung junger Menschen - thematisch zukunftsweisend und demokratisch wertvoll
Darüber hinaus belegen zahlreiche empirische Studien entgegen anderslautender Vorurteile, dass Jugendliche ab 16 über das notwendige politische Wissen und ausreichende Kompetenzen verfügen, um zu einer fundierten Wahlentscheidung zu kommen. Die Wahlforscher Thomas Faas und Arndt Leininger von der FU Berlin kommen angesichts eines Vergleichs der Landtagswahl in Sachsen und Brandenburg im Jahr 2019 zu dem Schluss, dass die Kompetenz und das politische Selbstbewusstsein von Jugendlichen besser als ihr Ruf seien (vgl. Faas/Leininger 2020: 26ff.) [3]. Außerdem wollen Jugendliche wählen - das zeigen die beiden Forscher mit ihren Befragungen, in denen die meisten Kinder ein Wahlalter ab 16 präferieren.


Aufgrund ihres relativ geringen Anteils an der Gesamtbevölkerung und der größtenteils fehlenden Mitspracherechte werden junge Menschen häufig von der Politik „übersehen“, aber auch von der Wahl- und Einstellungsforschung wenig beachtet. Das halten wir für problematisch, weil zentrale gesamtgesellschaftliche Themen wie Klimawandel, Zukunft der Arbeit oder Struktur der sozialen Sicherungssysteme sowie demographischer Wandel die politische Beteiligung jüngerer Menschen erfordert.

Mit einem Wahlrecht ab 16 werden mehr Menschen in politische Entscheidungsprozesse eingebunden, die von der Umsetzung politischer Maßnahmen in ihrer Gegenwart und Zukunft direkt betroffen sind. Das schützt nicht nur vor politischer Marginalisierung der Interessen und Belange junger Menschen, sondern erhöht auch die Legitimation politischer Entscheidungsprozesse.

Auch aus demokratischer Sicht spricht einiges für eine Absenkung des Wahlalters. Das Verhältnis von Jugend und demokratischer Verfasstheit eines Staates ist entscheidend, da sich in diesem Verhältnis die Reproduktionsbedingungen einer demokratischen Gesellschaft widerspiegeln. Die Einbeziehung Minderjähriger hat systemstabilisierende bzw. -erhaltende Funktion (vgl. Winkelmann/Zimmermann 2020: 503) [4].

Mit der Perspektive auf die politische Sozialisation junger Menschen lässt sich argumentieren, dass Jugendliche ab 16 meist noch in ihren Elternhäusern wohnen und mit erhöhter Wahrscheinlichkeit noch eine staatliche Bildungseinrichtung besuchen. Eine Vorbereitung auf die Wichtigkeit politischer Wahlen ist daher institutionell abgesichert (vgl. Kritzinger/Zeglovits 2016: 186) [5]. Die Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an den ersten Wahlen beeinflusst den „Wahlhabitus“ junger Menschen nachhaltig (vgl. Plutzer 2002) [6].


Hessen - wir brauchen Veränderung!
Hessen hatte bereits 1998 das Kommunalwahlrecht für Jugendliche eingeführt, die CDU-geführte Regierung unter Roland Koch den Schritt allerdings nach einem Jahr schon wieder rückgängig gemacht (vgl. Winkel/Zimmermann 2020: 502) [4]. Aktuell setzen sich in Hessen die SPD, die Grünen und die Linke für eine Absenkung des Wahlrechtsalters auf Kommunal- und Landesebene ein.

Im vergangenen Dezember forderten Jugend Wählt und Verfassungsrechtler Prof. Hermann Heußner von der Hochschule Osnabrück den Hessischen Landtag auf, den Ausschluss der 16- und 17-Jährigen durch eine Verankerung des abgesenkten Wahlrechts in der Hessischen Gemeindeordnung und der Landkreisordnung noch vor der Kommunalwahl zu verhindern. Da das nicht geschehen ist und ungefähr 100.000 Jugendliche damit rechtswidrig in ihrem Wahlrecht eingeschränkt wurden, werden wir die Verfassungskonformität der Wahl juristisch anfechten. 


Andere Länder - andere Erfahrungen
Ob in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen oder Thüringen - Jugendliche dürfen sich in diesen Ländern an kommunalen Wahlen beteiligen. In Schleswig-Holstein, Bremen, Hamburg und Brandenburg dürfen sich 16- und 17-Jährige sogar am Zustandekommen des Landtags beteiligen.

Im internationalen Vergleich ist das Wahlrecht unter 18 Jahren eine Ausnahme - nur 6% aller Staaten weisen entsprechende Regelungen auf. In der EU ist Österreich das einzige Land, in welchem man die nationale Regierung mit 16 wählen darf [7]. Mit der österreichischen Wahlrechtsreform 2007 ging in den bildungspolitischen Lehrplänen eine Erhöhung der Stundenanzahl im Politikunterricht ab der 8. Klasse einher. Durch unter anderem diese Variable ist das politische Interesse der Jugendlichen nun höher, als es vor der Reform war (vgl. Zeglovitis 2013) [8].

Die Begleitung der Wahlrechtsabsenkung mit Maßnahmen in der Schule oder im Rahmen der außerschulischen politischen Bildung hat starke Effekte auf die politische Sozialisation (vgl. Kritzinger/Zeglovits 2016: 197) [5]. Studien über langfristige Auswirkungen auf das individuelle demokratische Verhalten stehen in diesem Kontext noch aus.


Was bleibt?
Es wird deutlich: In Hessen bestehen gute Gründe, das Wahlrechtsalter abzusenken. Dazu braucht es zivilgesellschaftlichen Druck und genügend Initiative derer, die von den aktuellen Regelungen in ihrem Wahlgrundrecht eingeschränkt werden. Wir halten euch in den nächsten Wochen auf dem Laufenden, was sich in Hessen hinsichtlich der Kommunalwahl tut.


Quellen
[1]: Gründinger, Wolfgang (2014): Scheinargumente gegen das Kinderwahlrecht, in: Hurrelmann, Klaus/Schultz, Tanjev (Hrsg.): Wahlrecht für Kinder? Politische Bildung und die Mobilisierung der Jugend. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. S. 24-36.


[2]: Deutsches Kinderhilfswerk (2016): Netzwerk Wahlalter 16 fordert Absenkung des Wahlalters in Berlin. Online: www.dkhw.de/presse/schlagzeilen-archiv/schlagzeilen-details/netzwerk-wahlalter-16-fordert-absenkung-des-wahlalters-in-berlin/. Zuletzt abgerufen am 15.03.21. 


[3]: Faas, Thorsten/Leininger, Arndt (2020): Wählen mit 16? Ein Empirischer Beitrag zur Debatte um die Absenkung des Wahlalters. Ein Projekt der Otto Brenner Stiftung. OBS-Arbeitspapier 41. Frankfurt: Otto-Brenner-Stiftung.


[4]: Winkelmann, Thorsten/Zimmermann, Julia (2020): Mehr Demokratie wagen? Wählen mit 16. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik. Jg. 69, Nr. 4. S. 501-510.


[5]: Kritzinger, Sylvia/Zeglovits (2016): Wählen mit 16? – Chance oder Risiko? In: Tremmel, Jörg/Rutsche, Markus (Hrsg.): Politische Beteiligung junger Menschen. Grundlagen – Perspektiven – Fallstudien. Wiesbaden: Springer VS. S. 185-199.


[6]: Plutzer, Eric (2002): Becoming a habitual voter: Inertia, resources, and growth in young adulthood. American Political Science Review 96 (1), S. 41-56.


[7] www.laenderdaten.de/staat/wahlrecht.aspx, zuletzt abgerufen am: 17.03.21.


[8]: Zeglovits, Eva (2013); Voting at 16? Youth suffrage is up for debate. European View 12 (2). S. 249-254.

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