Bürgerbegehren in Zeiten von Corona

Die Bürgerinitiative "Bensheimer Marktplatz besser beleben" startete ein Bürgerbegehren, dessen Sammelfrist von den Corona-Kontaktbeschränkungen beinträchtigt war. Wir sprachen mit der Initiative über die damit verbundenen Herausforderungen, Rechtliches und Ratschläge für andere Bürgerbegehren. 

 

Wieso hat ihre Initiative sich für dieses Verfahren entschieden? 
Viele Bensheimer Bürger waren unzufrieden, da sie nach der Zusage für einen >ergebnisoffenen Bürgerbeteiligungsprozess< für die Neugestaltung und Belebung des Marktplatzes in Bensheim keinen adäquaten Umgang mit dem Ergebnis des Bürgerdialogprozesses feststellen konnten.
Aus dem Grund bildete sich die Bürgerinitiative „Bensheimer Marktplatz besser beleben“ mit dem Ziel, dem Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom 13.02.2020 für einen städtebaulichen Realisierungswettbewerb (= die Errichtung eines Gebäudes mit gastronomischer Nutzung, als das angeblich demokratisch gefundene Ergebnis des Bürgerdialogs) zu widersprechen und ein Bürgerbegehren auf den Weg zu bringen.
Bis dato ist ein Widerspruch in Hessen leider nur über diesen langwierigen Prozess möglich.  
Die BI hätte mit Vorliebe ein Online-Verfahren gewählt um so die Bürger schneller für eine Abstimmung zu erreichen. 

 

Ihre Initiative fiel in die Zeit der Corona-Kontaktbeschränkungen. Welche Komplikation traten auf, was musste beachtet werden und wo lagen die Schwierigkeiten? 
Die vertrauensbildende und für die Aufklärung unerlässliche direkte Ansprache der Bürger - über Infostände in der Stadt und/oder Haustürbesuche - wurde durch den Corona-Lockdown unmöglich gemacht.
Daraufhin hat die BI rasch reagiert, eine Online-Präsenz erstellt und diese in der Presse beworben. Somit konnten sich Unterstützer das Unterschriftenformular direkt von der Internetseite herunterladen, ausfüllen und per Post an eine der Vertrauenspersonen senden.
Das wurde sehr gut angenommen und motivierte uns die Bürger mit einer „Briefkasten-Aktion“ nochmals schriftlich anzusprechen und um ihre Unterschrift zu bitten. 
Unsere Erfahrung ist, dass auch online eine zielgerichtete Arbeit möglich ist, das persönliche Gespräch jedoch niemals ersetzen kann. 

 

Welche Auswirkungen hat die aktuelle Situation - Corona bedingt - aus Ihrer Sicht, auf die direkt-demokratischen Prozesse?
Ernüchternd war für uns festzustellen, dass aufgrund der Corona-Pandemie eine Terminverschiebung für anstehende Bürgermeister- und Stadtverordnetenwahlen von der Gesetzgebung genehmigt wurde, aber diese Möglichkeit für Bürgerbegehren nicht bestand.  
Dies auch noch im Widerspruch, dass Termine für Bürgerentscheide sehr wohl angepasst wurden. 
Diese Situation forderte uns heraus, Kontakt mit dem Innenministerium aufzunehmen, um Klärung zu bitten und um Gleichstellung zu ersuchen.
Hier war eine erste Antwort: „es sei für das Sammeln von Unterschriften für das Bürgerbegehren ausreichend und zeitgemäß die Bürger über eine Webseite sowie die lokale Presse zu informieren“ weder hilfreich, noch das Faktum nützlich, dass man bisher in Hessen für ein Bürgerbegehren online nicht votieren darf. 
Leider ließen sich die Unschärfen bis dato weder über das Innenministerium noch über den Petitionsausschuss in Wiesbaden klären. 
Hinzu kam die starre Haltung des Bensheimer Magistrats, der trotz eines zweiten, eher vermittelnden Briefes des Innenministeriums nicht gewillt war, einen Konsens mit uns zu suchen und nach Lockerung der Kontaktbeschränkungen eine „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ zu gewähren.
Statt der Empfehlung (des IM) zu folgen, ließ die Stadt drei Rechtsgutachten erstellen und bemühte eine namhafte Anwaltskanzlei, um ihre Position und Anti-Haltung der BI gegenüber zu unterstreichen. 
Das Recht auf „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ musste sich die BI vor dem Verwaltungsgericht in Darmstadt über einen Eilantrag erstreiten. Das konnte nur mit viel Stress und weiterer ehrenamtlicher, rechtskundiger Unterstützung erreicht werden. 
Die zugestandenen 19 Nachhol-Tage verkürzten sich um zwei Tage, weil die „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ mit der zweiten Lockerung der Kontaktbeschränkungen in Hessen sofort Gültigkeit bekam und die Vertrauenspersonen erst rückwirkend durch das Verwaltungsgericht in Kenntnis gesetzt wurden. 
Das erzwang einen Kaltstart. Setzte die BI erneut unter Druck und erforderte einen großen Sprint. Trotz aller Erschwernisse gelang es, die Bürger erneut für den Bürgerentscheid und den Marktplatz zu sensibilisieren, sodass das Quorum mit einem Plus von 21% erreicht werden konnte.  
Dabei wirkte zusätzlich erschwerend, dass alle über die Website bzw. unsere erste Briefkastenaktion generierten Unterschriften, die während des Lockdowns geleistet wurden, nach der „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ nicht gewertet wurden. 

 

Welchen Rat geben Sie anderen Bürgerinitiativen?
Die Empfehlung, sich frühzeitig um Sponsoren zu kümmern, wurde am Anfang von uns Vertrauensleuten unterschätzt. 
Es entstehen ganz schnell Druckkosten für Flyer und Plakate. In unserem Fall kamen zwei Briefkastenaktion und die Erstellung einer Website dazu.
Nur durch vielfältige wohlwollende soziale Unterstützung konnten wir bisher die privaten Kosten für unser Team einigermaßen im Rahmen halten. Unerheblich sind diese allerdings nicht.
Eine BI ist auf Sponsoren angewiesen, die dieses ehrenamtliche Engagement unterstützen und zu würdigen wissen.
Unser Rat? Trotz aller Hürden und Schwierigkeiten – dranbleiben. Diese Arbeit ist wichtig.  

 

Möchten Sie noch etwas über Ihre eigenen Erfahrungen berichten?
Als Bürger betritt man echtes Neuland. Eine steile Lernkurve in der Persönlichkeitsentwicklung ist garantiert. Man generiert schnell interessante Gespräche
und Kontakte und kann neben den unzähligen Herausforderungen viel Spaß und Freude miteinander haben.
Zu schaffen ist die Arbeit nur mit hohem persönlichem Aufwand und in einem guten Team. Geregelter Broterwerb ist in diesem Zeitraum fast unmöglich.
Unter den Corona-Bedingungen brauchten wir einen besonders langen Atem, um diesen direktdemokratischen Prozess in unserer Stadt durchzusetzen. 
Dabei durften wir viel Unterstützung von Seiten der Bürger erfahren, die sich durch die BI in ihren Interessen vertreten sahen und unmöglich fanden, wie von städtischer Seite mit uns umgegangen wurde. 
Das Verhalten der „Stadtoberen“ drückte sich durch Ignoranz und Unterstellungen aus. Eine sachliche und konstruktive Auseinandersetzung blieb bis heute aus. 

Die von uns geleistete ehrenamtliche Bürgerarbeit hat (noch) keinen guten Ruf in unserer Stadt. Uns wurde klar, wie wichtig es ist, sich längerfristig für politische Bildung stark zu machen.

Alle BI-Mitstreiter durften erkennen, dass im Interesse der Bewahrung von Demokratie und gesellschaftlicher Verantwortung, für Transparenz in Entscheidungsprozessen und vor allem für Offenheit im Umgang mit Steuergeldern viel Bürgeraufwand nötig ist, um den „Machtinhabern“, denen fast jedes Mittel recht zu sein scheint, ihre Interessen durchzusetzen, Paroli zu bieten.
Sich als Bürger einzubringen sollte eher wertgeschätzt, finanziell gefördert, von der Verwaltung mitgetragen und viel selbstverständlicher in die politische Kultur eingebunden werden. 
Es besteht daher dringender Handlungsbedarf, die Zusammenarbeit von Bürgern und öffentlicher Verwaltung zu überarbeiten und zu modernisieren. 

 

Wie geht es jetzt weiter?
Wenn uns die Abkürzung und favorisierte Option einer Konsensbildung am „runden Tisch“ mit allen Akteuren und politisch Verantwortlichen vorher nicht gelingt, wird voraussichtlich erst im März 2021 mit dem Bürgerentscheid über die Form des Wettbewerbs entschieden werden. 

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